Abdelwahab Meddeb:
Die Krankheit des Islam
Vor zehn Jahren – 2002, noch unter dem Eindruck des schockierenden Attentats vom 11.September 2001 in New York, hat der französische Schriftsteller Abdel Wahab Meddeb dieses Buch mit seinem provozierenden Titel veröffentlicht. Das Buch hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Es ist das Buch eines Zeitgenossen, der sich zu seiner muslimischen Tradition bekennt, der aber keiner der derzeitigen islamischen Denominationen mehr angehören möchte. Besorgt und schockiert vom aktuellen Trend der islamischen Gesellschaften, in denen sich der Fundamentalismus wie eine ansteckende Krankheit ausbreitet, sei das Buch vor allem den Menschen gewidmet, die, wie er selbst, in der islamisch-arabischen Kultur ihre Prägung erfahren haben, die sich aber entschieden den humanistischen Standards moderner Gesellschaften verpflichtet fühlen. Islamischer Fundamentalismus oder Islamismus ist für Meddeb nicht einfach ein religiös-soziales Missverständnis, sondern eine „Krankheit“, die den echten Islam befallen habe. Diese „Krankheit“ hat nicht erst mit Osama bin Laden und seiner Al Quaeda begonnen, wie mancher im Westen glauben möchte, ihr Ausbruch liegt – vom Westen nicht wahrgenommen – schon einige Jahrzehnte zurück.
Der entscheidende Grund:
1. Der Islam hat den Machtverlust nicht verkraftet.
Die erlebte politische und kulturelle Unterlegenheit gegenüber der weltweit siegreichen Moderne ist der Ausgangspunkt für alle Bewegungen, die die islamische Wiedererweckung oder die islamische „Reconquista“ auf ihre Fahnen geschrieben haben. Spätestens seit der Gründung der islamischen Republik Iran 1979 durch den Imam Khomeini sollte dem aufmerksamen Zeitgenossen klar geworden sein, dass eine neue Epoche in der islamischen Welt begonnen hatte. Dass dieser politische Sieg ausgerechnet dem schiitischen Islam des Iran gelungen war, wurmte alle Reformer des sunnitischen Islam besonders, zumal ihre religiös-revolutionären Bewegungen viel älter waren, als die schiitischen.
2. Genealogie des Fundamentalismus
Der Streit um den wahren Islam und seine Lebenspraxis ist alt und zieht sich durch die ganze Geschichte der islamischen Gesellschaften, ganz ähnlich den Auseinandersetzungen in der Geschichte der christlichen Gesellschaften. Immer paart sich dann fanatische Frömmigkeit mit rigoroser Feindschaft gegenüber Kultur, Kunst und Wissenschaft. Auch die aktuellen islamistischen Bewegungen halten sich nicht an die ausgewogene Tradition der offiziellen Koranauslegung der befugten Religionsexperten der verschiedenen „Schulen“ des Islam, sondern sie haben ihre speziellen Lehrer, auf deren Auslegung sie sich berufen. Wichtig sind die Namen von Hassan al Banna (1906-1949) des Gründers der Muslimbrüder in Ägypten, Sayid Oubt (1929-1966), dem Theoretiker des Jihad gegen den heidnischen Westen oder des Pakistani Abul ala Maududi (1903-1979), des Propagandisten des modernen Jihad und der Jema’a Islamiya. (Allen gemeinsam ist eine kompromisslose Position gegenüber westlichem Gedankengut und westlichem Lebensstil, damals zugleich auch der Kampf gegen die westlichen Kolonialmächte.)
Vor allem aber sollte man leider auch den Namen Ibn Abd al Wahhab (1703-17932) kennen, der sich in seiner Lehre auf den radikalen mittelalterlichen Koranlehrer Ibn Taymiya (1263-1328) berief. Abd al Wahhab war es, der den arabischen Stamm der Saudis auf seine „wahhabistische“ Lehre einschwor und sie zu Hütern des „wahren Islam“ ernannte. So praktizierte der arabische Clan der Saudis seit 250 Jahren einen rigoristisch sektiererischen Islam, der damals in der islamischen Welt als nicht nachahmenswert angesehen wurde.
Das wäre bis auf den heutigen Tag auch so geblieben, wenn nicht die Saudis im Verlauf des 1.Weltkriegs die gesamte arabische Halbinsel erobert hätten und kurz darauf durch die entdeckten Erdölquellen auf ihrem Staatsgebiet zu unvorstellbarem Reichtum gekommen wären. Saudi-Arabien ist – an den Standards moderner Gesellschaften gemessen – das reaktionärste Staatsgebilde der Erde. Aber Verwalter der heiligen Stätten von Mekka und Medina imponieren sie den internationalen muslimischen Pilgern mit ihrem Reichtum und exportieren mit ihrem Geld den rigiden wahhabitischen Islam in alle Welt. Ihr Geld ist auch an vielen militärischen Operationen beteiligt, in denen islamische Gruppierungen den Jihad propagieren. Osama bin Laden stammt aus Saudi-Arabien und auch die meisten „nine eleven“ Attentäter kommen aus diesem Land.
Für Autor Meddeb ist die Rolle der Saudis und die fatale Wirkung des Wahhabismus bei der akuten islamischen Krankheit am ärgerlichsten, eigentlich nur überboten von der politischen Naivität der amerikanischen Politik, die um ökonomischer Vorteile willen den humanen Anspruch der Moderne der reaktionären saudischen Gesellschaft gegenüber verleugnet hatte, bis sie im September 2001 sehr drastisch eines Besseren belehrt wurde: Amerika ist der Freund der saudischen Ölscheichs und der Feind aller gläubigen Muslime!
3. Der heutige Islam – unattraktiv für den Westen
In Kapitel 3 und 4 behandelt Meddeb das antagonistische Verhältnis des Islam zum Westen: Ein kurzer Einblick in die Geschichte zeigt: Der Islam in seiner Phase der kulturellen Überlegenheit empfand den Westen und seine Kultur nicht als Konkurrenz, eher als unterentwickeltes Terrain. Jahrhunderte lang bekam ein kulturell rückständiges Europa seine Impulse aus der orientalisch-islamischen Kultur. Das aber änderte sich unerbittlich spätestens im 18. Jahrhundert: Die islamischen Gesellschaften verloren den Anschluss an die Errungenschaften der Moderne und versanken auch in politische Bedeutungslosigkeit. Der Fundamentalismus sieht den Grund dafür in der Verleugnung der eigenen islamischen Wurzeln und fordert die unbedingte Unterwerfung unter das Diktat einer rigorosen religiösen Bekehrung, die bedingungslose Unterwerfung unter das Gesetz Allahs. („Allahkratie statt Demokratie“). Der ausgemachte Feind dieser Entwicklung ist der Westen und seine Lebensart. Deshalb sei Abkehr und Verweigerung für Muslime eine religiöse Pflicht. Denn diese Moderne ist religionsfeindlich und gottlos! Man darf sich ihr nicht unterwerfen, ohne den Zorn Gottes befürchten zu müssen. Die Rückkehr zum „wahren Islam“ – Back to the roots! – ist der alleinige Heilsweg für alle Probleme moderner Gesellschaften, auch der nicht islamischen. (Siehe die aktuelle Propaganda der Salafisten in Deutschland.)
Tragisch für das Verhältnis, dass der Westen derzeit vor allem einem sich fundamentalistisch gebärdendem Islam begegnet und die große liberale Tradition des klassischen Islam nicht wahrnehmen will. So ist der Islam in seiner aktuellen Präsentation für den Westen eher unattraktiv. Vor allem die Forderungen der Scharia kollidieren mit den Standards moderner Grundrechte. Auch für Meddeb ist der Islam in seiner fundamentalistischen Variante nicht akzeptabel. Aber er hält die islamische Tradition für groß genug, um sich positiv in die Moderne einzubringen. Aber nur, wenn es dem Islam gelänge, seine „Krankheit“ zu überwinden.
Fazit
Ein lesenswertes Buch für alle, die sich über die Befindlichkeit zeitgenössischer islamisch geprägter Gesellschaften informieren und etwas ausführlicher in die Geschichte der islamisch-arabischen Kultur einführen lassen wollen. Der Leser profitiert von der detaillierten Kenntnis des Autors in islamischer Literatur und Geschichte und begegnet Namen und Episoden, von denen er noch nie gehört hat, die aber belegen, welch große Bedeutung der Diskurs der islamischen Philosophie auch für die Geistesgeschichte des Okzidents hatte und vielleicht haben könnte. Ob aber auch ein moderner Islam mit dem Selbstverständnis moderner Gesellschaften zurecht kommen wird, ist eine der spannendsten Fragen für die nähere Zukunft.
KS – 08-2012
Nachtrag am 7. November 2014
Wie heute in FAZ online zu lesen, ist Abdel Wahab Meddeb vor wenigen Tagen an Krebs gestorben: Hier ein Nachruf in FAZ.NET von Jürg Altwegg
KS