Limonow
von Emmanuel Carrere
Hätte ich nicht vor wenigen Wochen Emmanuel Carrere’s “Reich Gottes” mit großer Begeisterung gelesen, ich hätte wohl sein Buch “Limonow” nicht in die Hand genommen. Und nun bin ich recht froh, es gelesen zu haben. Es ist eine so authentische Auseinandersetzung mit diesem Eduard Limonow und den Russen seiner Generation, dass man bei der Lektüre und ihrer Information fast überfordert wird. Limonow ist keine Romanfigur, sondern eine real existierender russischer Schriftsteller. Er selbst bezeichnet sich als “egomanen Proll”, und die Welt darf froh sein, dass er mit seinen Überzeugungen und Ambitionen nicht eine Führungsrolle in der russischen Politik übernehmen konnte.
Eine sehr kompetente Rezension des Buches ist schon 2012 im SPIEGEL erschienen, in der sowohl das Buch als auch eine Einschätzung der Person Limonows nachzulesen ist.
Man erlaube mir aber noch einige zusätzliche Bemerkungen zum Buch, die für mich sehr aufschlussreich waren: Carrere schildert sehr detailliert die Tage und Wochen des Zusammenbruchs der Sowjetunion und die Karrieren der neuen Machthaber des nationalen Russland, sowie den Aufstieg der sog. Oligarchen, die sich mit internationaler Hilfe die russischen Bodenschätze unter ihre Kontrolle brachten – milliardenschwere Kleptokratie. Ebenso kenntnisreich und einfühlsam wird das Schicksal der einfachen Bevölkerung geschildert, die mit diesem Umbruch zurecht kommen musste, für die der – im Westen – so euphorisch gefeierte Zusammenbruch der Sowjetunion vor allem als eine tägliche Versorgungskatastrophe erlebt wird.
Kritisch nachzufragen wäre vielleicht auch, ob Carrere die Rolle, die das ökonomische Desaster, der verlorene Afghanistankrieg und die islamistischen Aufstände beim Zusammenbruch der Sowjetunion gespielt haben, unterschätzt und die zweifellos wichtige Veröffentlichung sowjetkritischer Bücher überschätzt hat. Manchmal liest es sich so, als hätten Bücher und ihre Autoren die Sowjetunion zu Fall gebracht?
Carrere’s Buch sei aber all denen dringend empfohlen, für die das Wort “Putin-Versteher” ein beliebtes Schimpfwort ist, und die glauben, dass man es mit Putin nur mit einem zynischen Machtpolitiker zu tun habe, der einfach mit Repression und Gewalt seine eigenen Ambitionen verfolge. Sie wissen nicht oder wollen es nicht wissen, dass Putins Überzeugungen über Russlands Rolle in der internationalen Welt die Überzeugungen einer Mehrheit der russischen Bevölkerung sind, und dass viele Vertreter der – in den westlichen Medien unterstützten – russischen Opposition bei näherer Betrachtung wenig wünschenswerte Partner des Westens wären. Mehr „Delinquenten“ als „Dissidenten“, wie der SPIEGEL schrieb.
Putin ist und war beileibe kein „lupenreiner Demokrat“, wie Gerhard Schröder behauptete, aber er ist ein – inzwischen leider zu fast allem – entschlossener russischer Patriot. Mir scheint ein Zitat aus einer Rede Putins von signifikanter Bedeutung: “Wer den Kommunismus wieder errichten will, hat keinen Verstand. Wer ihm nicht nachtrauert, hat kein Herz.” Aber “Niemand hat das Recht, 150 Millionen Menschen zu sagen, dass siebzig Jahre ihres Lebens und des Lebens ihrer Eltern und Großeltern, dass alles, woran sie geglaubt und wofür sie gekämpft und sich geopfert haben, dass selbst die Luft, die sie atmeten, Scheisse gewesen sei. Der Kommunismus hat fürchterliche Dinge angerichtet, in Ordnung, aber er war nicht dasselbe wie der Faschismus. Die Gleichsetzung, die westliche Intellektuelle mittlerweile als selbstverständlich hinstellen, ist eine Schande.” (S. 406)
Die erneute Wiederwahl Putins in 2016 zeigt, dass eine beachtliche Mehrheit der Russen hinter ihrem Präsidenten steht, der vor allem den USA klar gemacht hat, dass man mit Russland auch nach dem Ende der Sowjetunion auf Augenhöhe zu verhandeln habe. Obamas hingeworfene Bemerkung, “Russland sei ja schließlich nur eine Regionalmacht”, zeigt, wie wenig man in den USA und in der NATO von Russlands Problemen verstanden hat.
Den syrischen Diktator Assad stürzen zu wollen, ohne die Interessen von Putins Russland als seinem Verbündeten in die Überlegungen mit einzubeziehen, zeigt aufs Neue die unverständliche Naivität amerikanischer Außenpolitik im Nahen Osten. Die Rechnung bezahlt derzeit die syrische Bevölkerung. Man erzähle uns nicht, dass man das nicht hätte vorher wissen können…
Aber all das ist natürlich keine Rechtfertigung für Russlands derzeitige politisch-militärische Aktionen, wie zB. auch die Krim-Annektion. Auch wenn es Putin partout nicht gefallen sollte, seine jüngste Politik ähnelt fatal der Hitlerschen Nationalpolitik der frühen dreißiger Jahre, die ja als gerechtfertigte Reaktion auf die ungerechte Behandlung Deutschlands in den Friedensverträgen von Versailles vermittelt wurde. Auch hinter dieser Politik stand damals eine Mehrheit der Bevölkerung, wie sie in Russland heute hinter Putin steht. Es sollte dem intelligenten Putin aber auffallen, dass sein ehemaliger Radikalkritiker Limonow und seine „Nationalbolschewiki“, die er früher mit aller Härte bekämpfte, heute fast geschlossen seine Politik unterstützen und nur pro forma weiterhin als Dissidenten verstanden werden wollen.
Echte „Putin-Versteher“ wissen aber, wo das „Verständnis für Putin“ endet und Klartext geredet werden muss. Es sieht leider nicht gut aus. (KS)
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Nachtrag vom 14.10.2016
Hier eine weitere sehr detaillierte, dreiteilige Beschäftigung mit „Limonow“ :