„The poor Palatines“– oder wie kamen arme Pfälzer 1709 in die Londoner Schlagzeilen?

Daniel Defoe:  Kurze Geschichte der Pfälzischen Flüchtlinge

Das war ja spannend: Ein weltbekannter englischer Schriftsteller wie Daniel Defoe, Autor des Romans „Robinson Crusoe“ soll in England eine Schrift über Pfälzische Flüchtlinge verfasst haben?  Das wäre ja nicht nur speziell für heutige Pfälzer, sondern auch für andere deutsche Landsleute eventuell ganz interessant.  Ja, Defoe hat tatsächlich am 11. August 1709 den Traktat  A Brief History oft he Poor Palatine Refugees in London  veröffentlicht. Ein hoch politischer Text, über 300 Jahre alt, der zudem noch eine aktuelle  Brisanz zur heutigen Flüchtlingsdebatte in Deutschland hat.

Besser informierte Leser mögen es mir gnädig nachsehen – ich wusste nicht, dass   Daniel Defoe –  der Autor des Romans „Robinson Crusoe“ – in seiner Zeit vor allem ein sehr gefragter politischer „Journalist“ war, der Zugang  zu wichtigsten Vertretern der damaligen britischen Regierung der Königin Anne Stuart hatte und der seit 1706 regelmäßig in der politischen Zeitschrift „Review“ seinen Kommentar zur „Lage der Nation“ beisteuerte. Ein bisschen Recherche  im Internet macht ja– Google sei Dank – oft ein wenig schlauer.

„Fake-News“ mit tragischen Konsequenzen! 

Aber was hat es denn nun mit den armen Pfälzer Flüchtlingen auf sich?  Im Sommer 1709 in London scheint es das brisanteste soziale Problem gewesen zu sein: Zu Zehntausenden kommen  Menschen aus der Pfalz und Süddeutschland nach England, um Armut und religiöser Verfolgung zu entfliehen und eine bessere Zukunft in den englischen Kolonien Nordamerikas zu finden. Sie verlassen eine pfälzische Heimat, die im  pfälzischen Erbfolgekrieg (1688-1697) von den Heeren des französischen  Königs Louis XIV. barbarisch verwüstet fast unbewohnbar war. Sie hatten außerdem einen Winter(1708/09) hinter sich, der zu den kältesten Wintern Mitteleuropas zählt. Man hatte den Menschen erzählt, in Carolina, in Amerika würden dringend Menschen gesucht, und die gute englische Königin Anne würde die Überfahrt dorthin bezahlen, was aber nicht der Wahrheit entsprach, wie sich dann in London herausstellte. Auch wenn England tatsächlich Zuwanderung in den Kolonien brauchte, eine solch hohe Zahl an Menschen zu befördern, war sowohl technisch als auch ökonomisch nicht machbar. Defoe hat es in seinem Traktat dokumentiert.

Helfen oder zurückschicken? 

Was aber tun mit zehntausenden mittellosen Menschen, die zunächst  ganz auf die soziale Wohltätigkeit der englischen Bevölkerung angewiesen waren?  Die Diskussion in der Bevölkerung ging hoch her. Besonders die mit eingereisten Katholiken sollte man sofort wieder zurückschicken. Nach eingehender Recherche bei der Regierung und unter den Flüchtlingen, kommt Defoe zu dem Schluss: die beste Lösung sei eine schnelle und systematisch betreute Einbürgerung. Die Flüchtlinge aus der Pfalz seien ehrliche und arbeitsame Leute.  Defoe nennt  detaillierte  Zahlen  und listet  auf, aus welchen Gegenden und Städten der Pfalz die Menschen kämen und  welche Berufe sie hätten. (Er weiß auch, wo Germersheim, Heidelberg, Frankenthal und Philippsburg usw liegt..)

England sei es seiner christlichen Religion schuldig, verfolgte protestantische Flüchtlinge aufzunehmen und sie so schnell wie möglich in Arbeit zu bringen und einzubürgern. Selbst wenn religiöse Verfolgung nicht  der hauptsächliche Auswanderungsgrund sei, so gäbe es doch eine menschliche Pflicht zur Hilfe.  Das führe darüber hinaus zu nationaler Ehre und verspreche außerdem einen beträchtlichen wirtschaftlichen Gewinn. Das belege der Blick auf andere erfolgreiche Länder wie z.B. die Niederlande und Brandenburg, wo die Aufnahme von Einwanderern zu erheblichem staatlichen Wohlstand geführt habe. Soweit das Plädoyer von Daniel Defoe.

Wie es denn den „poor Palatines“ – wie sie in England genannt wurden tatsächlich danach ergangen ist, weiß man nicht so genau. Etwa 3000 Menschen habe man nach Irland gebracht, die Hälfte davon war schon nach einigen Monaten wieder in London. John Robert Moore vermutet in seinem Vorwort, dass wohl ein Teil der Menschen tatsächlich in England geblieben oder wieder auf den Kontinent zurückgekehrt oder auch umgekommen sei. Andere Quellen berichten, dass  tatsächlich ein Teil der armen Pfälzer – nämlich etwa 600 Menschen – eine Schiffspassage ins gelobte Land Carolina geschafft hätte. Davon seien aber nur etwa 300 lebend angekommen. (siehe: Die Queen und ihr Flüchtlingsproblem)

Pfälzer in Amerika

Übrigens war diese geschilderte Auswanderungsbewegung aus der Pfalz in Richtung Amerika weder die erste, noch die letzte. Die größte Welle wird das 19. Jahrhundert bringen, in dem neben Millionen Deutschen  auch wieder zehntausende Pfälzer in die USA emigrieren, dann nicht über den Umweg Rotterdam und England, sondern auf direktem Wege über die Häfen Bremen und Hamburg. Amerika, das Sehnsuchtsland der Migranten des alten Europa. Aber dass nicht jede gelungene Auswanderung nach Amerika auch ein glückliches Schicksal bedeutete, davon  kann so manche Familiengeschichte erzählen. (Und dass nicht jeder erfolgreiche pfälzische Auswandererenkel ein Glück für den Rest der Welt bedeutet, das dürfen wir derzeit  mit Donald Trump erleben. Aber das ist ja noch nicht das Thema von Daniel Defoe.)

Zeitversetzte Aktualität

Was uns an seiner kleinen Geschichte berührt, ist die zeitversetzte Aktualität der Problematik mit unvorhergesehener Massenmigration, der sich eine Gesellschaft plötzlich gegenübersieht. Auch wenn man die Zeiten und die konkreten Bedingungen des Flüchtlingsstroms nach Europa, besonders nach Deutschland mit der Situation in England vor 300 Jahren nicht ohne weiteres vergleichen kann – die Kriege damals waren ein rein europäisches Desaster, die kulturelle Identität europäisch, – so ähneln doch aktuelle Situationen heute erschreckend den Ereignissen von damals.

Da kommt vor 350 Jahren eine wohlhabende und begehrte Region  wie die schöne Pfalz aufgrund dynastischer und religiöser Machtinteressen  erst im 30jährigen Krieg und dann ein paar Jahre später im pfälzischen Erbfolgekrieg in die erbarmungslose Mühle katastrophaler Kriege, denen man nur durch eine geglückte Flucht entrinnen konnte. Irgendwohin, wo man erwartete,  für sich und die Seinen ein besseres Leben zu finden. Eine Situation, die der in Syrien, im Irak und in so vielen Gegenden der Welt im Jahre 2018 so bedrohlich ähnelt. Und dann die Problematik, im erreichten Land aufgenommen und akzeptiert zu werden, auch wenn heute vor allem die kulturell-religiösen Probleme islamischer Migranten eine Integration erschweren. Ich denke aber, Defoes Plädoyer, Migranten schnell in Arbeit zu bringen, für sich selbst sorgen zu lassen und damit auch eine Einbürgerung  möglich  zu machen, ist auch heute noch ein sehr guter Rat.

Auch wenn Defoe’s Text über 300 Jahre alt und seine Ausdrucksweise oft von barocker Weitläufigkeit ist, lohnt es, ihn zu lesen. 85 Seiten sind auch gut zu schaffen. Dank an meine Schwester Hildegard, die mir das Büchlein zur schnellen Lektüre zugeschickt hat.  (KS – Febr. 2018)

Zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema:

http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2011/03/Massenauswanderung                                                                                                                                                                                                        http://www.zeit.de/2016/01/deutsche-fluechtlinge-london-daniel-defoe-anne-stuart

https://de.wikipedia.org/wiki/Massenauswanderung_der_Pf%C3%A4lzer_(1709) 

http://www.woerterwoelfe.de/?p=3401

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Kommentare

  • Ralf C. Scherzinger  Am 25. Februar 2018 um 09:35

    Hallo Klaus,
    Danke für den Link und die zusätzlichen Informationen zu den Ursachen dieser Auswanderung. Die Fakten in meinem Artikel basieren im wesentlichen auf „Walsh/Jordan: White Cargo. The forgotten history of Britain‘s white slaves in America“ und „Philip Otterness, Becoming German: The 1709 Palatine Migration to New York, (2004).“
    Beste Grüße.
    Ralf.

  • klaussturm  Am 25. Februar 2018 um 18:04

    Hallo Ralf,

    vielen Dank für das Artikel-Echo mit dem Hinweis auf weitere informative Artikel: Packende Überschrift: „White Cargo!“ „White slaves“ Da ich selbst ein „nach NRW emigrierter“ Pfälzer bin, hat mich das Thema natürlich besonders interessiert, zumal man ja seit Trump nicht immer nur stolz auf ausgewanderte Landsleute sein kann…

    Möchte bei dieser Gelegenheit Dir ein dickes Kompliment zu Deinem Portal machen.Interessante Themen und prima geschrieben . Congratulations und beste Grüße

    Klaus

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