Passionsgedanken 2022
Beim Stöbern in meinem Bücherregal fiel mir zufällig das Exemplar der Zeitschrift NATIONAL GEOGRAPHIC vom Mai 2006 in die Hände mit der Titelfrage, warum Jesus verraten worden sei. Ein etwas ungewöhnliches Thema für eine Zeitschrift, die eigentlich nur seriöse geographische Themen publiziert. Aber der aufsehenerregende Fund eines Papyrus in den 1970er Jahren in der oberägyptischen Wüste war der Redaktion die Publikation dieses Artikels wert. Immerhin war dieser Fund der bedeutendste nach den Nag Hammadi Papyri 1945. Nach Jahren subtiler konservatorischer Arbeit war es 2005 gelungen, die fast 1000 Teilchen des Manuskripts zusammenzusetzen und zu entziffern. Dann die Überraschung: Der Papyrus enthält in koptischer Schrift den fast vollständigen Text des bisher nicht bekannten „Judasevangelium“. In diesem Evangelium wird behauptet, dass der Verräter Christi eigentlich sein treuester Jünger gewesen sei. Wie das denn?
Für uns Normalchristen ist die Antwort auf die Frage, warum Jesus verraten worden sei, seit über 2000 Jahren eigentlich recht klar: Laut Auskunft der vier kanonischen Evangelien wurde Jesus durch seinen Jünger Judas Iskarioth an seine jüdischen Gegner verraten und von ihnen an die Römer ausgeliefert, die ihn dann kreuzigen ließen. Und warum? Weil Jesus von der Jerusalemer Tempelaristokratie als Ketzer gesucht und den Römern als gefährlicher Rebell vorgeführt wurde, wobei Judas als geldgieriger Dieb und Informant für den „Judaslohn“ von 30 Silberlingen ihnen zu Diensten war. (in heutiger Währung etwa € 10.000 – also kein Kleingeld, auch für damalige Verhältnisse) Dass Judas später seine Tat, sich das Leben nahm und sich mit einem Strick erhängte, war das Gottesgericht über seinen Verrat. Und seither ist sein Name das Synonym für schändlichen Verrat.
Ohne diesen Verrat und den Kreuzestod Jesu gibt es nach christlicher Deutung aber keine Erlösung der Menschheit und auch keine frohen Ostern der Christenheit. Ein religiöses Dilemma und ein gewaltiges historisches Drama, das die biblischen Autoren da entfalten. Passionsspiele wie z.B. die von Oberammergau oder die Matthäus- und Johannespassion J.S. Bachs lassen Zuschauer und Zuhörer etwas von der emotionalen Dramatik dieser Erzählung erfahren.
Was ist daran historisch?
Lassen sich diese Erzählungen mit ihren Ereignissen und handelnden Personen auch historisch belegen? Viele Christen halten das ja für selbstverständlich. Immerhin geht es um eine ganz zentrale Angelegenheit ihres christlichen Glaubens und zudem um das Verfahren und die Hinrichtung des offenbar unschuldigen Menschen Jesus, um einen historischen Justizmord von weltgeschichtlicher Bedeutung, zu dem ein Mann namens Judas nicht unerheblich beigetragen haben soll.
Grenzen wir das Problem etwas ein: Die überwiegende Mehrheit der Historiker hält es für historisch plausibel, dass der jüdische Prediger Jesus, eine historische Person war und von der römischen Besatzungsmacht etwa um das Jahr 30 n. Chr. in Jerusalem als Rebell gekreuzigt wurde. Kreuzigungen von Rebellen aber waren für die römische Militärpraxis ein übliches Tagesgeschäft, für das keine besonderen Prozesse geführt wurden. Aber diese Kreuzigung wurde nicht vergessen. Die Bewegung, die später Christen genannt wurde, bezog sich ausdrücklich auf diesen gekreuzigten Jesus und seine Lehren.
Aber fast alle zur Passion Jesu gehörenden Begebenheiten und Akteure sind historisch nicht fassbar, sondern erfahren ihre Gestalt allein durch die neutestamentlichen Schriften, insbesondere durch die vier kanonischen Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes. Literaturgeschichtlich sind es mythologische Erzählungen, die fast hundert Jahre nach dem Tode Jesu für ein bestimmtes Publikum verfasst wurden und samt und sonders auf mündlichen Erzählungen beruhen. Das gilt auch besonders für die Person des Judas.
War Jesus ein Gnostiker?
Man muss nun wissen, dass in den ersten dreihundert Jahren der christlichen Kirche eine ganze Reihe von Evangelien in Umlauf waren, von denen sich aber nur die heute uns geläufigen – die sog. vier kanonischen – Evangelien erhalten haben, weil die offizielle Reichskirche unter Strafandrohung ab etwa 380 n.Chr. entschied, dass diese als einzig „wahre“ Evangelien gelesen und gebraucht werden durften. Damit waren alle anderen – noch offensichtlich im Umlauf begriffenen – heiligen Schriften geächtet, somit auch das „Judasevangelium“. Deshalb die Überschrift des koptischen Papyrus: “Der geheime Bericht der Offenbarung, die Jesus im Gespräch mit Judas Iskarioth verkündete“, in demChristus den Judas als den besten Jünger qualifizierte: “Du wirst sie alle übertreffen. Denn du wirst den Menschen opfern, der mich kleidet.“ (Zitat)
Die etwas kryptische Sprache verrät das gnostische Umfeld, in dem das Evangelium als griechischer Text im 2. Jahrhundert wohl entstanden ist. Entscheidend für die gnostische Sicht der Welt ist, dass der „göttliche Funke“, das „göttliche Licht“ in unserem irdischen Körper gefangen ist und erst durch den Tod aus ihm befreit wird. Diese Erkenntnis, griechisch: Gnosis, sei entscheidend für das Heil des Menschen. Auf unseren Text im Judasevangelium angewandt, ist Judas der qualifizierte Helfer für Jesus, der ihm ermöglicht seine göttliche Berufung durch seinen Tod zu erfüllen, ihn also von seinem „menschlichen Kleid“ befreien wird. Nichts also von einem schändlichen Verrat am geliebten Meister, wie ihn die kanonischen Evangelien dem Judas unterstellen.
Alternative Deutung der Passion möglich?
Das provoziert die Frage, ob denn eine alternative Deutung der Passionsgeschichte und der Rolle des Judas überhaupt denkbar ist. Die offizielle kirchliche Dogmatik praktisch aller christlichen Konfessionen schließt eine solche Version aus. Für die Figur des Judas, egal ob historisch oder nicht, ist das besonders tragisch. Sein Name Judas, der nichts anderes bedeutet wie Jude, ist symbolisch für die religiös begründete Judenfeindschaft der historischen christlichen Kirche, die den Juden als Volk vorwarf, seinen gottgesandten Messias verraten und für den Tod Jesu verantwortlich zu sein.
Die biblische Exegese kann heute nachweisen, dass diesen judenfeindlichen Texten des NT der historische Konflikt der jungen Christengemeinden mit ihrer Heimatsynagoge im ersten nachchristlichen Jahrhundert zugrunde liegt, der literarisch in die Jahrzehnte zurückliegende Passionsgeschichte Jesu zurück projiziert wird – mit Nachwirkungen bis heute.
Das Judasevangelium zählt zu den sog, gnostischen Evangelien, deren Anspruch auf historische Authentizität noch dürftiger ist als die der anderen Evangelien. Und es ist sicher, dass Jesus kein Gnostiker gewesen sein kann, weil die Gnosis-Bewegung erst im 2. Jahrhundert entstand. Aber – und ich formuliere es als Frage: Wäre es nicht denkbar, dass Jesus seinen Tod als Preis für das Kommen des Reiches Gottes erwartete? Sah er sich doch berufen, die Ankunft dieses göttlichen Reiches zu verkünden als Erfüllung der Prophezeiungen der Propheten Israels.
Auch nach der Darstellung der kanonischen Evangelien war Jesu Predigt und sein Bewusstsein erfüllt von der eschatologischen Erlösungserwartung durch Gottes Eingreifen in die jüdische Geschichte. Hat Jesus etwa die Rolle des zum Leiden verurteilten „Gottesknechts“ des Propheten Jesaja auf sich persönlich projiziert und damit seinen Tod in Kauf genommen, sich geopfert? Judas wäre in dieser Version der eingeweihte tragische Helfer Jesu, der an dieser Rolle aber verzweifelte und sich das Leben nahm, als nach dem Tod Jesu das erwartete Reich Gottes sich doch nicht ereignete.
Wir wissen das nicht, wie so vieles nicht in der biblischen Jesustradition, auch wenn sich die kanonischen Evangelien den Anschein geben, als wüssten sie über alle Details Bescheid. Sie wissen es de facto nicht und widersprechen sich in vielen Punkten.
Mir scheint die oben angedeutete Version psychologisch plausibler als die mythologisch geprägten Erzählungen und Deutungsbilder der biblischen Tradition im Neuen Testament, die in der christlichen Dogmengeschichte zu theologisch monströsen Überzeugungen ausarteten – von der Präexistenz Jesu als zweite göttliche Person über die Jungfrauengeburt bis zu den Dreifaltigkeitsdogmen der frühen Konzilien und dem päpstlichen Unfehlbarkeitsdogma des 1.Vatikanums im Jahre 1871. „Ein Gramm Literaturkritik hätte der Welt viele Tonnen theologischer Spekulation ersparen können.“ meint der Theologe Peter de Rosa in seinem Buch „Der Jesus-Mythos“
Dass der elende Tod am Kreuz des armen Mannes aus Nazareth nicht das Ende dieser Evangelien ist, sondern nach dem traurigen Karfreitag der frohe Ostersonntag eines auferstandenen Christus kommt, ist der erfreulichere Teil der Passionsgeschichte. Aber ohne diesen entscheidenden Moment des Jesus-Mythos wäre auch keine Passionsgeschichte erzählt worden. Das jedoch ist eine weitere Geschichte, die einer eigenen Betrachtung bedarf. (KS 04-2022)